Franz Ostolski ist tot

Als ich am 22. September am Telefon diesen Satz hörte, wurde ich von der einen zur nächsten Sekunde traurig. Mir fiel es schwer, der Überbringerin der Nachricht zu antworten. Der ging es wohl wie mir; in klaren Sätzen redeten wir nicht. Mehr als 50 Jahre kannten wir Franz; etwa 40 davon sahen wir uns wöchentlich beim Training auf der Judomatte. Mit sich anschließendem Treffen in der Kneipe zum Fachsimpeln, Schwätzen und Reden; reden ist meist ernsthafter als schwätzen.


Zuletzt schwätzte und redete ich mit Franz als er seinen 87igsten Geburtstag feierte. „Na – Du alter Mann!“ war mein Gruß. Ich durfte ihn so anreden, sprach er doch meist selbst von sich als altem Mann. Doch dieses Mal antwortete er auf meinen Gruß „Von Wegen alter Mann – ich bin jetzt ein Hochbetagter, also noch älter als ein Greis!“ Er habe gelesen, erzählte er belustigt weiter, dass über 85Jährige die alten Alten seien, die Hochbetagten.


Das Franz über sich selbst lachen konnte und lebenslustig war, wissen alle, die ihn näher kannten. Und jetzt ist dieser lebenslustige Mensch tot. Warum das so ist, liegt wohl daran, dass der Tod, der jedermanns gewisseste Zukunft ist, immer aufdringlicher wird und schließlich besiegelt, dass es für den, den er trifft, keine Zukunft mehr gibt. Was bleibt, ist Schmerz für die Angehörigen. Wenn der vergangen ist, ist freundliche Erinnerung wieder möglich.


Franz Ostolski fing am 1.2.1951 an, Judo zu machen. Im Jiu-Jitsu Club (JJC) Hilden. Das Verbot der alliierten Besatzungsmächte, im Nachkriegsdeutschland Judo zu machen, war erst seit drei Jahren aufgehoben. 1951 war auch das Jahr, wo in Frankfurt die ersten Deutschen Judo-Meisterschaften nach Kriegsende stattfanden. 1952 wurde das Deutsche Dan-Kollegium e.V. (DDK) unter dem Vorsitz von Alfred Rhode und 1953 der Deutsche Judo-Bund e.V. (DJB) unter dem Vorsitz von Heinrich Frantzen gegründet.


Hans vom Stein, ein Arbeitskollege von Franz und Gründer des JJC Hilden erzählte Franz von Judo und lud ihn zum Training ein. Im JJC Hilden fand Franz seinen Sport. Was ihm am Anfang fehlte, war ein Judoanzug, den es damals nirgends zu kaufen gab. Also nähte ihm seine Mutter einen aus einem Gewebe, das reißfest genug und unter der Bezeichnung Köper zu kaufen war. In diesem selbst genähten Judoanzug bestritt Franz schon am 3.11.1951 in der Klasse bis 80 kg seinen ersten offiziellen Wettkampf.


Die Prüfung zum 1. Dan bestand Franz am 6.9.1958. Die Prüfer waren Shuichi Nagaoka, seinerzeit einer der in Deutschland hauptberuflich unterrichtenden japanischen Judolehrer, Heinrich Frantzen, Max Hoppe und Klaus Münstermann, der spätere Kampfrichterreferent des DJB.


Fasse ich Franz´ Erfolge als Einzel- und Mannschaftswettkämpfer zusammen, so sieht das so aus:


ein zweiter und zwei dritte Plätze bei Landesmeisterschaften, acht Kreismeistertitel, bei Kreismeisterschaften ansonsten zwei zweite und drei dritte Plätze. Hinzu kommen kaum nachzählbare Einsätze im Mannschaftsbereich für den Post SV Düsseldorf und für die Polizei SVg Jahn Solingen. Zu den besonderen Mannschaftserfolgen gehörten 1960 der Aufstieg mit dem Post SV Düsseldorf von der Landes- in die Oberliga und im Verlauf der siebziger Jahre der Aufstieg mit der Polizei SVg Jahn Solingen in die Regionalliga.


Parallel zu den Wettkämpfen hatte Franz Trainerlizenzen erworben und mit A-Lizenz auch Trainerpflichten übernommen, nämlich

- im Post SV Düsseldorf von 1958 bis 1963 und von 1977 bis 1978, 

- im Universitäts-Sport-Club Düsseldorf von 1969 bis 1987,

- in seinem Ursprungsverein Judoclub Hilden von 1956 bis 1958 und von 1961 bis 2004 und 

schließlich 

- in der Polizei SVg Jahn Solingen von 1959 bis 2009.


Auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene war Franz von 1966 bis 1985 Kampfrichter und von 1968 bis 1995 Lehrgangsreferent, zunächst für die NRW-Landesgruppe des DDK und nach dem Zerwürfnis zwischen DDK und DJB für das Nordrhein-Westfälische Dan-Kollegium e.V. (NWDK). Lehrwart in der NRW-Landesgruppe des DDK war Franz von 1968 bis 1980. Ihr 1. und 2. Vorsitzender war er knapp zwei Jahre, von 1980 bis Juni 1982. Mitglied im Lehrausschuss des Nordrhein-Westfälischen Judo-Verbandes e.V. (NWJV) war Franz von 1990 bis 1995.


Der 6. Dan im Judo wurde Franz im Jahr 1977, der 7. Dan 12 Jahre später und der 8. Dan im Jahr 2013 verliehen. Seit 1970 wurde Franz als Dan-Prüfer eingesetzt. Darüber hinaus setzte ihn das NWDK regelmäßig als Wertungsrichter bei den NRW-Kata-Meisterschaften ein, waren ihm doch alle Kata, die im DJB gelehrt werden, in Praxis und Lehre geläufig. Wovon viele Judoka profitierten; nach meiner Erinnerung führte Franz wenigstens 11 Judoka bis zum 5. Dan:


Ilse Höltgen, Mario Sbardella, Peter Frese, Paul Klenner, Eckhard Walker, Tomaso D´Anello, Hans Hörster, Karsten Labahn, Swen Collas, Helge Welzel und mich.


Aufgehört, aktiv Judo zu machen, hat Franz im Sommer 2009 nach einer Hüftoperation. „Ich hätte gerne noch bis 2011 gemacht; dann wären 60 Jahre voll gewesen.“ Das war Franz´ damaliger Wunsch. Ich dachte seinerzeit, dass sein Rückzug aus dem aktiven Judo ein Kraftakt für ihn war. Verzagt war er aber nicht. „Ich möchte hin und wieder teilhaben, zum Beispiel als Prüfer oder vielleicht mal wieder auf der Matte.“ Dies war seine Antwort auf meine damals gestellte Frage, welche Bedeutung Judo für ihn hatte.


Mehrmals waren Franz und ich Zuschauer beim Judo-Grand-Prix in Düsseldorf. Bei einem sagte ich ihm, er solle sich mal vorstellen, Jigoro Kano hätte hier zugesehen. Welche Beschreibung wäre Kanos wahrscheinlichste:


- „Wie nennt ihr diesen Sport?“ 

- „Ich bin überrascht, wie gut ihr mich verstanden habt.“ 

- „Ich hatte mir was anderes vorgestellt – aber das, was ich gesehen habe, war auch nicht schlecht.“


Franz entschied sich für die letzte Antwort, mit dem Zusatz „Glaube ich.“


Ich habe viel Judo von Franz gelernt, im Verlauf von über 40 Jahren. Und manches andere, was dazu gehört, auch: Wettkämpfer, Trainer, Lehrer, Prüfer, Funktionär. Franz bedeutete mir viel, mit der nötigen Distanz des Schülers zum Meister. Wenn auch hier die Tradition der Japaner gepflegt würde, dass der Schüler den Judogi seines Meisters wäscht, dann hätte ich das getan. Glaube ich.


Weiter oben in diesem Nachruf schrieb ich, dass der Tod besiegelt, dass es für den, den er trifft, keine Zukunft mehr gibt. Ich vergaß, hinzuzufügen: Jedenfalls nicht in diesem Leben.


Michael Holte